Auf Bali verzaubert und illuminiert der deutsche Künstler Walter Spies eine höhere Inderin in Umkehrung der üblichen Anordnung mit westlichem Lehrling und östlichem Meister.
Indische Hill- & Hellbillys
„Bis du erkrankst … an einem Fieber, das kein Arzt kennt.“ Sujata Bhatt
Rai Chand liebt Geld. Jede höhere Macht bestreitend, agiert er als Kriegswaise in einem verwüsteten Land. Mit einer Zwille schießt er Mangos aus den Kronen. Er hungert und bettelt sich durch Nordindien bis zum Gletschertor Gaumukh am Fuße des Gangotri, wo der Bhagirathi dem Himalaya entspringt. Nach mythischer Annahme beginnt da der Ganges. In jedem Fall tritt eine seiner Quellen da aus dem Fels. In vereister Unwirtlichkeit verabreden sich Schakale zum Picknick. Schneeleoparden zeigen ihre Schönheit im Profil.
Das letzte Aufbäumen ergriffener Antilopen
„Die lauernde Wildnis“ erscheint Chand weniger mysteriös als ein Ausbund indischer Hillbillys, die sich auf einem entlegenen Außenposten ihrer zivilisatorischen Bindungen entledigen. Anuradha Roy erzählt von „marodierenden Mobs (und) schwer trinkenden Holzfällern und Jägern“ im Dienst des britischen Entrepreneurs Frederick Wilson.
Anuradha Roy, „Der Garten meiner Mutter“, auf Deutsch von Werner Löcher-Lawrence, Luchterhand Literaturverlag
Die Autorin datiert Chands ersten Kontakt mit dem Mogul in der Wildnis auf das Jahr 1857. Wilson liefert dem subkontinentalen Eisenbahnschienenbau die Schwellen. Er profitiert von einem gewaltigen kolonialen Unterfangen. Zedern, „die Jahrhunderte“ für ihre sechzig Höhenmeter brauchten, lässt er im Akkord umlegen. Ihr Holz widersteht jedwedem Verfall. Es ist zudem termitenresistent. Die Stämme werden geflößt, das ist eine Geschichte für sich. Wilson wird zum Dschungelkönig, ich sehe an dieser Stelle, egal in welchem Roman, stets Marlon Brando als von Francis Ford Coppola fortgeschriebene Joseph Conrad-Figur. Als Herrscher über Berg & Tal prägt Wilson seine eigene Münze.
Chand macht sich nützlich, steigt zum Manager auf und reüssiert schließlich in der Selbständigkeit eines Schreiners mit einigen Filialen. Vom Wohlstand bleibt Chands frühverwaistem Sohn nichts außer dem mottenzerfressenen Präparat eines Glanzfasans und dem obligatorischen Tigerfell mit Bernsteinmurmelaugen. In diesem Plunder wird er zum Großvater von Myschkin, der Hauptperson im Roman.
Trödelpraxis
Myschkins Großvater praktiziert in dem Ramschladen als Arzt. Bis zum Verkauf diente das Angebot als Interieur. Eines Tages im Jahr 1937 erwirbt Walter Spies in der Trödelpraxis einen Klapptisch. Damit verbindet sich kein Hauptinteresse. Spies ist auf der Suche nach Myshkins Mutter Gayatri*.
*In der Obhut ihres Vaters unternimmt die siebzehnjährige Gayatri 1927 eine Asienreise. Man ahmt europäische Lebensart nach. Die Unternehmung erfüllt die Zwecke der Horizonterweiterung. Auf Bali begegnet Gayatri dem Musiker und Maler Walter Spies (1895-1942). Er verzaubert und illuminiert die höhere Tochter in einer schönen Umkehrung der üblichen Anordnung mit westlichem Lehrling und östlichem Meister. Spies ist vielseitig beschlagen, eine Ausnahmepersönlichkeit mit enormer Anziehungskraft. Der Sultan von Yogyakarta beschäftigt Spies als Kapellmeister.
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An einem Monsunmorgen verlässt Gayatri ihre Familie. Sie brennt mit dem Deutschen durch, der für einen Briten gehalten wird, so wie Weiße im Indisch-Allgemeinen. Der verlassene Ehemann verachtet Kastenkategorien. Myschkins Vater tiriliert auf den Höhen westlicher Humanismusbegriffe und besteht auf Gerechtigkeit auch gegenüber seiner Frau.
Gayatri lässt sich auf Bali nieder. Fortan wartet Myschkin darauf, dass sich die Mutterliebe in einer Heimkehr erfüllt. Jahrzehnte später, längst hält es der Erzähler für angezeigt, „Vorbereitungen für ein geordnetes Ende zu treffen“, bringt Myschkin die Kraft auf, seiner Mutter recht zu geben.
Roy kombiniert Kolonialismuskritik mit indischer Lokalgeschichte und exemplarischen europäischen Biografien, die man flüchtig unter den Begriff Aussteiger*innen subsumieren könnte. Die europäischen und amerikanischen Quartiermacher*innen der Ashram-Pilger*innen waren keine Hippies. Roy bringt neben Spies auch die Orientalistin, Tänzerin, Übersetzerin und Ethnografin Beryl de Zoete ins Spiel, sowie Zoetes Gefährten Arthur Waley. 1938 veröffentlicht sie gemeinsam mit Spies das Standardwerk „Dance and Drama in Bali“.
Die Erzählperspektive/Botanisches Tagebuch
Ein alter Landschaftsgärtner, der als ökologischer Berater eines Nationalparks Meriten erwarb und wegen einer Saxifraga sein Leben aufs Spiel zu setzen bereit war, erinnert sich. Das innere Schauspiel vollzieht sich 1992 in seinem Elternhaus in der fiktiven indischen Stadt Muntazir. Zum Beweis für alles Mögliche könnte der Erzähler jederzeit ein vielbändiges botanisches Tagebuch heranziehen.
Man nennt ihn Myschkin nach dem fürstlich-freundlichen Helden in Dostojewskis Roman „Der Idiot“.