#MeToo ist eine Befreiungstechnik, mit der sich frau aus dem Würgegriff des Schamschweigens löst.
Sie weiß, wie man ein „gutes Trinkgeld“ ergattert, ohne selbst Aufwand treiben zu müssen. Den Champagner als übersteigerte Aufmerksamkeit für „das Pärchen, das sein Einjähriges feiert“ ordert Vanessa auch nicht anders als jeder Gast. Sie nutzt Strukturen, Standardeinstellungen. Sie hält sich an das übliche Programm. Bloß leiert sie es nicht herunter. Die Irritation eines Wimpernschlags, ein scheinbar von der Faszination losgeschickter Blick, ein erotischer Hauch, der wie Nebel über dem Tonfall aufsteigt: das reicht, um einen guten Job zu machen und als Concierge ein gutes Leben zu haben.
Kate Elisabeth Russell, „Meine dunkle Vanessa“, Roman, aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer, 446 Seiten, 20,-
Vanessa ist in der Tourismusbranche, sie datiert die Vorgänge auf das Jahr 2017. Nach außen erscheint sie auf Draht, doch ihre Innenwelt hat eine Facebookhülle, das heißt, die Erzählerin steckt in der Sozialemedienhölle. Sie leckt sich die Finger nach Likes.
„Wie unter Zwang rufe ich den Facebook-Post auf.“
Jacob Strane ist der Mann, dem gerade der Maulwurfhügel seiner Existenz auf die Füße fällt. Er war Vanessa Lehrer und Liebhaber in einer strikt verbotenen Konstellation.
In mir rauschen meine sechzig Lebensjahre auf. Mit der Hochschulreife zogen unsere Ehrgeizigsten, das waren Frauen durch die Bank, nicht nach Berlin, wo die Tage begannen, wenn in Westdeutschland Feierabend war, und nicht nach Frankfurt am Main, wo Adornos Geist vermutet wurde, sondern direkt und kompromisslos nach Amerika, um da zu bleiben. Sie wurden Meisterinnen ihrer Fächer, die sie dann unterrichteten. Sie bekamen Kinder oder auch nicht, doch blieben sie in jedem Fall in the long run alleinstehend, da die Kollegen vom Jugendmagnet angezogen wurden.
Same old story same old shit … doch verändern sich die Bewertungen in drastischer Weise. Der Fall, der Strane zu Fall bringt, wurde schon einmal ausgeleuchtet, jedoch in den Farben einer anderen Ära.
„Wir leben jetzt in einer anderen Zeit“, weiß Jacob.
Vanessa telefoniert mit ihm. Ab und zu schleicht sich eine alte Vertrautheit ein.
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Taylor Birch heißt die Frau, die Jacobs Affären-Muff in der Öffentlichkeit stinken lässt. Im Highend-Jetzt eines Augenblicks am Rezeptionstresen ruft Vanessa Facebook auf. Die Likes und Shares, die auf Taylors #MeToo-Post reagieren, schießen durch die Decke diskreter Lösungen. Auf der Plattform formiert sich eine Armee im Angriffsmodus. Der Feind ist ausgemacht. Vanessa vertraut sich dem Erinnerungsstrom an.
„Als Strane und ich uns kennenlernten …“
Sie ist fünfzehn, dreißig Jahre jünger. Er erzählt den üblichen Mist. Sie glaubt ihm einfach. Das ist leicht, so unbeschwert vom Gepäck der Erfahrung. Er rühmt die „emotionale Intelligenz“ der Schülerin. Er hebt Vanessa hervor. Er schmeichelt ihr, erklärt sie zum „Wunderkind“ – vor allem jedoch, das ist der infame Dreh, zur Seelenverwandten“.
Wir wissen es alle. Falls du keine Seelenverwandte in deinem Alter findest, hast du keine in deiner Reichweite. Sex und Seele sind sehr verschiedene Materien. Das begreift man im Verlauf der Jahrzehnte immer wieder neu. Mir ergeht es mit diesen Erweiterungen so wie mit den Fortschritten, die ich im Karate mache. Nach zehn Jahren Training, als mit spätestens zwanzig, hat man doch noch keine Ahnung. Es ist das Testosteron, das wie Doping wirkt; eine Droge, so wie Sex eine Droge ist, die einen zum Diversifikation-Extremisten macht. Nähe entsteht so nicht. Die Feinarbeit im Zentimeterbereich, das Zusammenspiel der Winkel; eine minimale Verschiebung der Hüfte. Man zieht Kraft aus der Erde. Das Knie wirkt wie ein Elevator. Und jetzt kommst du, dreißig Jahre älter, und lügst, weil dir mein Hintern nicht aus dem Kopf geht. Geh mir fort, sagt der Hesse*.
Wie ein Unterseeboot auf Schleichfahrt tastet sich Jacob vor. Er wirbt so elaboriert, berauscht von Vanessas Schmelz, den er mit seinen Augen aufkratzt.
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Vanessa ist gern mal traurig: mit Fiona Apple im Ohr.
Aufgewachsen in superber Einsamkeit bewahrt sie ein starkes Gefühl für sich selbst.