Chancen eines erodierenden Liberalismus
Die Demokratien nach aller Väter Sitte sind im Eimer. Isabell Lorey transportiert die Einschätzung im Überlieferungsmodus. Die Erosions- und Implosionstheoretiker*innen montieren ihre Gedankenskulpturen auf einen Ideensockel, der, und das ist Loreys Einstieg in den Diskurs, schon immer falsch war.
Isabell Lorey, „Demokratie im Präsens: Eine Theorie der politischen Gegenwart“, Suhrkamp, 20,-
Lorey sagt: „Die liberale repräsentative Demokratie (war) nie intakt.“
Die Krisenhaftigkeit konstituiert das Gesellschaftsmodell: in einem Pseudostabilität generierenden Elastizitätsfuror. Die Vorgänge der Neuen Sozialen Bewegungen zwangen sie in die Anpassungsmühlen parteienförmiger Organisationen. Sie forderten und erzwangen Strukturen der Partizipation, die kollabieren, wenn sie sich der Mitte verschließen. Dieses Modul verhinderte radikaldemokratische Erneuerungsprozesse.
Einhegung ist der Schlüsselbegriff.
Jede Politik der Verträglichkeit kriegt es über kurz oder lang mit den Wölfen der Mitte zu tun, die ihrem Nachwuchs Premiumpositionen sichern wollen. Im Gegensatz zu landläufigen Auffassungen stecken die größte Radikalität und das einzige revolutionäre Potential nicht in den Minderheiten. Da liegen nur die Zünder rum.
In der Mitte trifft sich die Gesellschaft wie eine Familie im Wohnzimmer. Lorey wiederholt einen Allgemeinplatz der Gegenwart. Da, in der Mitte nämlich, versammeln sich „seit den 2000er Jahren … autoritär-populistische Kräfte“. Sie drehen das Rad zurück. Sie untergraben den Status quo. Sie beantworten die Frage, wie hältst du es mit den Minderheiten, gegen die Laufrichtung des Fortschritts und im Geist des Trump’esken America First.
Lorey zitiert Stuart Hall, der bereits in den 1970er Jahren vom „autoritären Populismus“ sprach, als von einer Reaktion auf den die letzten proletarischen Bastionen schleifenden Thatcherismus. Seither nimmt die Bereitschaft, den Versprengten und Abgehängten ein paar Krümel zuzuspielen, stetig ab. „Die Repräsentationsangebote für die Unzufriedenen“ überliefern subtile Ausschlussformulierungen, die dann von sich etablierenden, unter dem Druck des Procedere parteiförmig gewordenen, ursprünglich anti-autoritären und sogar antiparlamentarischen sozialen Bewegungen übernommen werden.
Guckt euch die Grünen an. Deren Verbürgerlichung auf dem langen Marsch durch die Institutionen offenbart eine bürgerliche Genese. Die Partei gewordene Bewegung nähert sich jetzt dem Zustimmungsauftrieb, der in den Siebzigerjahren der SPD den Charakter einer Volkspartei gab.
Emanzipation als Vehikel der Restauration
Als alte Gespenster in neuen Kleidern gehen viele ihrer Wege. Jede redet ihrer Panik das Wort. Lorey erwartet eine „neue Zuspitzung der konstitutiven Geschlechterungleichheit“. Die „Propagierung einer natürlichen Geschlechterdifferenz“ reclaimt „patriarchal-heteronormative Geschlechterverhältnisse“. In diesem Kontext, so Lorey, ist Gleichberechtigung erreicht, „wenn weibliches und homosexuelles Führungspersonal“ eine „nationalistische und anti-europäische Haltung“ stützt. Wir reden hier über Varianten der Cultural Appropriation auf Masterclass-Niveau. Die vom Strom der neuen sozialen Bewegungen in den Chefbunker geschwemmte Aktivistin der Diversität erschöpft sich als Restauratorin eines überlebten Regimes.
Angst animiert die Akteure. In einem „biologistischen Feminismus“ schwemmen „rassistische Anti-Migrationspolitiken (und) kolonialistische Geschlechterdiskurse“ auf. Lorey beschreibt Transformationen des Fortschritts in rückschrittliche Aktionsformen.