In Frankreich begann die Verlegung von Schienen 1827. Neun Jahre später lud der Hauptgesellschafter der Compagnie du chemin de fer de Paris à Saint-Germain Baron James de Rothschild zur Erstbefahrung der Strecke Paris – Brüssel die bedeutendsten Persönlichkeiten der Epoche ein.
1. Juni 1846/7.30 h. Drei mächtig unter Dampf gesetzte Lokomotiven ziehen je zwanzig offene Waggons aus einem Provisorium just da, wo heute der Gare Saint-Lazare als einer der sechs kapitalen Kopfbahnhöfe im Quartier de l’Europe des 8. Arrondissements in Betrieb ist. Das Premierenpublikum erscheint zunächst glanzvoll und in Hochstimmung. Der Fortschritt triumphiert mit dreißig Stundenkilometern. Die Passagiere rußen allmählich ein und wirken zunehmend derangierter.
Orlando Figes, „Die Europäer. Drei kosmopolitische Leben und die Entstehung europäischer Kultur“, Deutsch von Bernd Rullkötter, Hanser Berlin, 34,-
Den Frieden und die Einheit von Frankreich und Belgien beschworen die Akteure in ihren Toasts. Die pazifistischen und antinationalistischen Erwartungen eröffnen Figes‘ Ausblick auf das 19. Jahrhundert und die europäische Dominanz.
Ich habe euch doch erzählt, dass ich vor wenigen Tagen in einem Zitronengarten am Gardasee mit dem Ingenieur Hans F. zusammengekommen bin. Das war keine konspirative Begegnung als Tauchgang in der Zisterne. Hans meinte, der Eisenbahnbau sei von Anfang an eine militärische Sache gewesen. Die Aussicht auf eine beschleunigte Verlegung von Truppen ergab, so Hans, den Hauptantrieb für die technischen Vorleistungen. Angeblich können Fachleute bis heute erkennen, wie sich die ursprüngliche Schwerpunktsetzung auf den zivilen Eisenbahnverkehr zum Nachteil bürgerlicher Interessen auswirkt.
Figes hält sich damit nicht auf. Der Historiker schildert den Saus und Braus beim Zwischenstopp in Lille.
„Die Festlichkeiten begannen mit einem prächtigen Bankett, das Rothschild für 2000 Gäste in einem riesigen Festzelt auf der Stätte des künftigen Bahnhofs abhielt, der damals innerhalb der mittelalterlichen Mauern errichtet wurde. Sechzig Köche und 400 Kellner servierten pochierten Lachs in Béchamelsauce, außerdem York-Schinken mit Früchten, Wachteln au gratin, Rebhühner à la régence sowie Sahnebohnen …“
Orlando Figes, geboren 1959 in London, ist Professor für Geschichte am Birkbeck College und zählt zu den renommiertesten Historikern Großbritanniens. Bei Hanser Berlin erschien zuletzt Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert (2015).