Die Waise Polly Flint findet Aufnahme bei harten Tanten. Die Tochter eines Seebären, der im Ginrausch auf der Kommandobrücke eines sinkenden Kohlenfrachters seinen Nachruhm sicherte, wächst in einer Marschlandschaft zwischen Erscheinungen aus dem Themenkreis der Marienwunder und anderen Mysterien supernatural auf.
Polly Flint wächst in einer Umgebung heran, die je nach Tageszeit und Lichteinfall als Idylle oder als Brache gelesen werden kann. An der Peripherie ihrer westlichen Reichweite zeichnen sich die Konturen eines Freilichtmuseums der Industriellen Revolution ab. Groß und still wie ruhende Seebären liegen die Höfe am Wegesrand.
„Die Straße wand sich weiter und weiter, die Hecken verschwanden und wichen wogenden Feldern mit jungem, grünem Getreide. Flecken später Primeln und ganze Seen von Schlüsselblumen.“
Jane Gardam, „Robinsons Tochter”, aus dem Englischen von Isabel Bogdan, Hanser Berlin, 24,-
Die Autorin verliert sich in Beschreibungen „wohlgenährter“ Arbeiter, rosiger Schleifsteine, seidig glänzender Pferdefelle und klimperndem Zaumzeug. Endlich erreicht ihre Erzählerin ein Dorf, das so heißt wie der Mann, den sie besuchen will: Thwaite.
Hoch angesehen auf der ganzen Welt sind Thwaites Dumper.
Ziegelrote Cottages und eine normannische Kirche* gruppieren sich um einen Ententeich.
*Die Anglo-Normannische Architektur folgte Bill the Bastard aka William the Conqueror aka Guillaume le Conquérant auf dem Fuß: zum Beweis der Machtverhältnisse, wie sie sich ergaben nach der Schlacht von Hastings 1066. Sie usurpierte den vorromanischen Sakralbau und bildete die Brücke zum gotischen Early English Style.
Mister Thwaite serviert Zimtscones in einem Haus, dessen äußere Gestalt Efeu und Winden Halt gibt. Es erscheint wie verborgen unter seinem Pflanzendach. Es steckt voller überseeischer Überraschungen. Plötzlich vermutet Polly, dass sich die Sensationen der Welt nicht in Landschaftsräuschen erschöpfen.
„Ich bin nicht sicher, ob wir wirklich in eine Landschaft eingestrickt werden sollten.“
Liste des Wesentlichen
Die Erzählerin stellt sich im ersten Satz vor.
„Ich bin Polly Flint.“
Polly wächst an einem freundlichen Katzentisch familiären Glücks auf. Als der Erzählfluss einsetzt, ist die Mutter schon tot. Polly parkt in einer weitreichenden Abwesenheit des Vaters bei Schwestern der Toten. Der Vater ist „ein kleiner schwerer (Seemann) auf leichten Füßen“; ein schlechter Sänger und guter Tänzer.
Captain Flint geht bald mit seinem Frachter unter, standhaft im Ginrausch. So launisch schildert Jane Gardam den lebhaften Prozess eines Verwaisens im erweiterten Familienkreis. Die abgeklapperten Milieus tauchen in den Farben von Pflaumenmus. Männer tragen Henkelmänner. Sie sind schwarz von Kohle.
Polly fährt in der ersten Klasse an ihnen vorbei.
Jane Gardam erzählt zunächst aus der Warte einer kindlichen Gleichzeitigkeit. Der Vater ist schon tot, lebt aber auf einer Liste des Wesentlichen weiter.
Polly erklärt sich selbst zur Verschlusssache.
Frühe Mysterien/ Vom Wind unterfüttert
„Kein besonders offenes Kind“, erkennen die Tanten. Liebe ist kein Fach, in dem man von ihnen unterrichtet wird. Es herrscht der Pragmatismus reiner Aufzucht … in einem von Polly Großvater, dem legendären Mr. Younghusband, nach vom Mainstream stark abweichenden Vorstellungen errichteten Haus namens Oversands in der Marsch. Vom Wind unterfüttert, schlagen Holzläden gegen die Rahmen. Nachmittags „kommt der Mann … und tut Dinge mit Tante Mary in der Küche“. Mary Autorität leidet in den Augen der heimlichen Zeugin. Wie derangiert und irgendwie daneben sie in den „Grausamkeiten“ des Besuchers aufgeht.
Ich finde die Gedichte von Dilek Mayatürk ...
Dilek Mayatürk, „Brache“, Gedichte, zweisprachige Ausgabe, übersetzt von Achim Wagner, Hanser Berlin, 20,-
... so gut, das ich sie ständig anbringen möchte. Wie kann man nur so präzise sein:
„Und natürlich wird man sich nicht an mich erinnern, wenn ich tot bin/ Etwas Kleingeld, das im Wintermantel vergessen wurde.“
„Gedichte (sind) Operationen am offenen Herzen“, sagt Mayatürk. Polly nimmt im Morgenzimmer, das zur Teezeit schon keine Sonne mehr kriegt, Deutschstunden ohne das geringste Vergnügen. Vor der Tür liegt das Deutsche Meer, ich nehme an, der Ausdruck trifft die Nordsee, diese atlantische Badewanne mit einem dreigliedrigen Landmassenrand. Vielleicht ist für Engländer*innen die Insellage ihrer Heimat nicht so selbstverständlich wie Kontinentaleuropäer annehmen. Vielleicht stört es sie bis zur Furcht, so leicht erreichbar zu sein: von furchtbaren Tagesausflügler*innen, deren größte Nachteil darin besteht, keine Engländer*innen zu sein.
Harte Schachteln
Der Wind peinigt Wolken. Er peitscht die Flagellanten über die Marsch aufs Meer, wo sie aufreißen und immer wieder anders ein großes Bild entstehen lassen. Polly lässt sich von der Theatralik des Wetters hochstimmen, so dass sie kaum erreichbar ist für die Sündensuaden der harten Schachteln, die sich vom Schicksal zur Erziehung der verwaisten Nichte aufgerufen fühlen.
In der rauen Obhut bleibt Polly verschlossen. Liebe ist kein Fach, in dem die Waise unterrichtet wird. Es herrscht der Pragmatismus reiner Aufzucht.
Da ist zum Beispiel Tante Mary. Während sie an der Fiktion einer reinen Sphäre mit Engeln, die nie kacken müssen, strickt, setzt sie sich dem Verdacht der Bigotterie aus. Polly lebt im permanenten Zeugenstand, soweit es Marys Ausschweifungen unter dem „Mann“ betrifft. Der Mann kommt nachmittags vorbei, um in der Küche einer der ledig alternden Younghusband-Töchter beizuwohnen. Polly wird von dem Akt in seiner variantenarmen Vielzahl vor Rätsel gestellt. Jedenfalls erscheint ihr die Tante diskreditiert und folglich für alles Göttliche und das Göttliche Streifende unzuständig.
Polly fühlt sich ungeliebt und fände lieber weniger Beachtung. Dem Fokus drakonischer Aufmerksamkeit entkommt sie nach Kräften.
*
In der Marsch vor Pollys Haustür steht ein unfertiger Prunkbau, genannt The Hall. Es gibt noch ein paar Sehenswürdigkeiten außer der schieren Fischerarmut und den Ruinen vergangener Aufschwünge.
Die Landschaft erzählt von Enttäuschungen. Die von Tanten in kaltblütiger Aufzucht vergatterte Waise beobachtet ihre Umgebung in der Vorhaltung vorausschauender Wahrnehmung.
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Man erklärt Polly, dass die griechische Auffassung von kolossal „obsolet“ sei. Der Belehrten fiele es leichter, einer Aufforderung zur Verfeinerung zu folgen, wären die Erziehungsmonster nicht so monumental-schrullig.