Allmählich geht Johanes die Luft aus. Er verliert seinen falschen Pastorenschwung, die Fassade bröckelt erst, dann bricht sie. Zum Vorschein kommt ein Zocker, der süchtig auf die Rennbahn schwört. Johnes' träger Sohn Paul feiert die Tristesse. Seine Vergnügungen strotzen vor pervers-verkrusteter Harmlosigkeit.
Johanes Hansen, Spross einer Dynastie glaubensbequemer Fischer, wird Pastor aus Protest gegen den blinden Furor der Natur. Eine Wanderdüne begrub die Kirche seiner Geburtsgemeinde. Ein ästhetischer Reflex macht Johanes zum Renegaten der Indifferenz. Doch wirkt sich die ursprüngliche Prägung zum Nachteil der Überzeugungskraft aus. Der Pastor erfüllt seine Aufgabe mit dem Effekt einer Schlaftablette. Er macht Toulouse zum Schauplatz seiner Lethargie. Erschwerend hinzu kommt das Temperament seiner Frau. Sie ist so krekel wie er matt. Achtundsechzig geht sie auf die Barrikaden. Ihr Mann versucht Schritt zu halten. Er verirrt sich in einem Widerstand gegen die außerparlamentarische Opposition, der seine Ehe an einen Abgrund führt. Der schwache Pastor entzieht sich dem politischen Lärm nach Kanada. Da besucht ihn sein Sohn Paul, der als Erzähler von sich reden macht. Er kommt, um zu bleiben.
Jean-Paul Dubois, „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“, Roman, auf Deutsch von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauver, dtv, 22,-
Sagenhafte Hohlräume
In Thetford Mines (45° 06' Nord /71° 18' West) leben nur Versprengte; isolierte Außenseiter*innen, die unter stereotypem Wiederholungszwang stehen. Sie gehen ihre Möglichkeiten zweimal durch, bevor sie in einer Asbesthölle hustend sterben.
Wikipedia weiß: „Thetford Mines ist eine Stadt im Süden der kanadischen Provinz Québec. Sie liegt in der Verwaltungsregion Chaudière-Appalaches, je rund 100 km südwestlich der Provinzhauptstadt Québec und nordöstlich von Sherbrooke.“
In der Gegend tun sich sagenhafte Hohlräume auf. „Die Welt nach Armageddon. Minen, Minen und noch mehr Minen, tiefer Tagebau, der bis zum Erdbauch reicht, gigantische Mondkrater, unvorstellbare, treppenförmig angelegte, von verschlungenen Wegen durchzogene Marsgräben (und) Berghalden.“
Allmählich geht Johanes die Luft aus. Er verliert seinen falschen Pastorenschwung, die Fassade bröckelt erst, dann bricht sie. Zum Vorschein kommt ein Zocker, der süchtig auf die Rennbahn schwört. Paul feiert die Tristesse vor Ort. Seine Vergnügungen strotzen vor pervers-verkrusteter Harmlosigkeit.
Raus aus dem Russ
Die Aufzeichnung einer bodenständigen Migration pfählen Episoden aus dem Gefängnis. Paul sieht ein zünftig-martialisches Hockeyspiel und erfährt, wie weit weg er von den Erleuchtungen dieses Sports dahinvegetiert. Zum Vorwurf macht ihm sein Zellengenosse, der brave Biker Patrick Horton, dass er kein Geburtskanadier ist.
Ungeschützter Augenblick
Nach dem Tod des Vaters zieht Hansen nach Montreal, wo er zum Gott der Mängel einer Wohnmaschine mit Residenzcharakter und den Ausmaßen eines Ozeandampfers wird. Nun ergreift Winona Mapachee von dem Hausmeister Besitz. Die Aura der doppelgesichtigen Pilotin (mit einem Algonkinin-Vater und einer irischen Mutter) gleicht einer ungeschützten Begegnung des Augen- mit dem Sonnenlicht. Die Helligkeit macht dich blind. Gleichzeitig zieht ein Farbgewitter über deine Netzhaut. Schläft Paul mit Winona, weiß er nie, ob er von einer „Irin aus Galway oder eine Squaw aus Maniwaki“ erkannt wird.
Knast-Kardinal
Die Kälte hat alles im Griff im Knast. Paul Hansen sitzt in der Haftanstalt Montreal, auch Bordeaux genannt, weil die Gegend vor den Gittern seines „Zwangsuniversums“ einst so hieß. Bis 1962 wurde im Bordeaux hingerichtet. Man hängte die Delinquenz rustikal am Hals auf. Hansen vermutet einen abgeholzten Garten Eden auf dem mit Verzweiflung und Angst zugeschissenen Boden jener Tatsachen, die ihn festhalten. Sein Buddy im Elend ist der Biker Patrick Horton, ein Hüne mit Herz. Seine Weltanschauung erschöpft sich in der Feststellung: Das Leben ist eine Schlampe und dann stirbst du. Meine Übersetzung.
Horton ist ein Rocker wie aus dem Baumarktkatalog
Horton wirkt so respekterheischend wie ein Kardinal. Man könnte ihn den Knast-Kardinal nennen.
Ästhetische Not
Wer ist dieser Paul Christian Frédéric Hansen?
Ein Franzose aus Toulouse. Der Sohn eines dänischen Pastors und Witwer einer Algonkin. Im Schöpfungsmythos dieses Volkes „stammt der Mensch vom Bären ab“. Winona hieß Hansens Frau. Ihr unsterbliches Wesen besucht ihn in der Zelle. Ihre erträumte Gegenwart erlöst den Gefangenen und entlässt ihn aus dem Grauen.
Sechsundzwanzig Jahre diente Hansen als Hausmeister in einer kanadischen Wohnmaschine kaum einen Kilometer von seinem Arrest entfernt. Er vollbrachte ein titanisches Werk in aller Stille und Unauffälligkeit. Er wirkte mit protestantischer Selbstlosigkeit. Das evangelische Arbeitsethos wird von ihm selbst retrospektiv bemerkt. Immer wieder kehrt er zu der geistlichen Genese seines in einer glaubensgleichgültigen Familie aufgewachsenen Vaters zurück, der als Kind erlebte, wie die Kirche seiner Gemeinde unter Dünensand begraben wurde.
„Der Anblick … dieses Strandguts des Glaubens“ erzeugte eine ästhetische Not, die ihn ausscheren ließ und es ihm nicht länger erlaubte, der religiösen Nachlässigkeit seiner Leute zu frönen.
Jean-Paul Dubois spielt mit den Ingredienzien eines famosen Feierabend-Existenzialismus. Hansens Mutter führte das Programmkino ihrer Eltern „mit der Effizienz einer Stalinorgel“. Der Knabe lernt die Formeln und Verse der Avantgarde.
„1958 war ein gutes Jahr für das Spargo. Mein Onkel, Vertigo, Im Zeichen des Bösen und Die Katze auf dem heißen Blechdach.“
Die Seelsorgerei des Vaters fällt unter den Tisch. In einem Kranz der Zustimmung versieht er sein Amt so „flach“ wie möglich.
„Er sucht und findet „Zustimmung … auf dieser … Stelle konventionell, enttäuschend und ermüdend flach (zu agieren). Aber war es nicht genau das, was man von ihm erwartete?“
Zehn Jahre später steckt die Familie in der Revolte. Die Mutter geht aktivistisch durch die Decke. Der Aufruhr wird zum Elchtest für die Ehe.