Auf der Reise zum ersten Kuss
Berlin, 1997
Als ich am nächsten Morgen bei Bleta aufwachte schien nichts
mehr wie vorher. Zum einen war ich wie befreit, ich hatte Madonna
live gesehen. Ich kam mir ziemlich mächtig vor. Ich hatte
jetzt erst recht das Gefühl, ich könnte alles im Leben erreichen.
Frau Schmidt gewann ebenso an Bedeutung für mich. Sie hatte
ihr Versprechen gehalten und mir damit einen großen Traum erfüllt.
Und dann hatte ich einen Jungen geküsst. Einen deutschen
Jungen, wohlbemerkt!
Ich kam mir sehr cool vor.
„Guten Morgen, Eraaaaaa“, Bleta stand neben dem Bett mit
zwei Tassen Tee in der Hand. Sie war schon früh wach. Sie sah
so aus, als wäre sie frisch aus einem Model-Katalog gesprungen,
ihre blonden Haare zu einem Zopf zusammengebunden. Die
Wimpern dick mit Tusche geschminkt, große, runde Ohrringe
an. Dazu eine schwarze Hose und einen Kapuzenpulli in pink.
„Guten Morgen“, sagte ich verschlafen. „Warum bist du so
früh wach?“
„Ich musste Frühstück machen für meine Geschwister. Die
jüngeren sind immer so früh wach. Und, gut geschlafen?“
„Ja, habe wie eine Tote geschlafen“, sagte ich. „Wo sind deine
Eltern?“, wollte ich wissen.
„Die sind arbeiten“, sagte Bleta.
„Waaas, auch am Sonntag?“
„Ja, auch am Sonntag“, fügte sie hinzu.
„Und was kann man am Sonntag arbeiten?“
„Putzen geht immer“, sagte sie schulterzuckend. Dann reichte
sie mir den Tee. „Ingwer, Honig, Zitrone. Probiere mal. Vielleicht
schmeckt es dir. Weil ich das Zeug trinke, werde ich nie krank“,
sagte Bleta.
*
Ich nahm einen Schluck und verbrannte mir fast die Zunge:
„Ahh, heiß, mhh ... und bitter, ich brauch mehr Honig.“ Ich
stand auf und ging in die Küche. Bletas kleinere Geschwister saßen
herum, tranken auch diesen Tee, aßen Cornflakes mit Müsli
und Bananenstückchen und sahen friedlich aus.
Als ich zurückkam, war Bleta am Grinsen.
Mein Tee war jetzt süß genug.
„Man merkt, dass du Einzelkind bist. Du benimmst dich wie
eine Prinzessin, Era“, sagte Bleta zum Spaß.
„Aber warum denn, ich weiß einfach, was ich will.“
„Ja, ja, Era, gestern als wir bei Helena waren haben wir uns alle
im Zimmer umgezogen, du bist dafür ins Bad gegangen. Siehst
du, doch Prinzessin“, dann streckte sie mir die Zunge raus.
„Haha, ich brauche halt viel Platz für mich. Ja, vielleicht liegt
es auch daran, dass ich Einzelkind bin. Aber eine Prinzessin bin
ich auf gar keinen Fall“, sagte ich und trank noch den letzten
Schluck Tee.
Danach machte ich mich fertig.
Als ich zu Tür ging, sagte ich ihr: „Ich bin sehr glücklich, dass
du beim Konzert dabei warst. Das werde ich nie vergessen. Ich
habe dich sehr lieb.“
„Ich habe dich auch sehr lieb, Era.“
Dann umarmten wir uns. Ich ging ins Flüchtlingsheim.
Es war ein Sonntag. Ich wollte unbedingt mit meinen Eltern
frühstücken. Mama hatte versucht, Schokobrötchen zu machen,
Tee gekocht, Eier gebraten, Käse aufgetischt. Ich aß wie ein Weltmeister.
Unsere Bleibe war zwar mini-klein, aber mittlerweile war
es gemütlich darin. Mama hatte ein paar Blumen gepflanzt, gelbe
Gardinen aufgehängt, rote Decken auf die Betten ausgestreckt.
Es sah gar nicht mehr so schlimm aus. Dieses Zimmer war unser
Heim.